27. April 2023
Es ist hell morgens, dafür kalt wie Mitte März, dem jahrzehntelang üblichen Zeitrahmen der Leipziger Buchmesse. Einzig die blühenden Obstbäume, die kilometerlang Straßen und Fahrwege säumen, weisen auf das aktuelle Datum. Es ist Ende April und am Wochenende wird es wieder warm.
Die Natur explodiert, wie in jedem Frühjahr, von einem zum anderen nehme ich es bewusster wahr, liegt wohl am Älterwerden.
Am frühen Morgen im Zug zu sitzen ist ungewohnt, zwischen all den jungen Leuten, die zur Arbeit fahren und schwatzen oder ein Nickerchen halten. Ich bin hundemüde, aber zum Einnicken viel zu aufgeregt.
In den ersten Jahren meines Schriftstellerdaseins bin ich in jedem März nach Leipzig gefahren. Mit einem Rucksack voller Manuskriptauszüge, Visitenkarten, Beutel für Gratiszeitungen. Die Beutel füllte ich, meine Texte wurde ich nicht los.
Heute weist jeder Blogger darauf hin, dass man ohne Termin nicht bei Verlagen vorstellig werden soll und kann. An den meisten Ständen sind die Lektoren eh nicht vor Ort oder lassen sich verleugnen. Schutzmechanismus, auch vor Jahren war ich nicht die einzige mit kiloschwerem Text-Gepäck.
Es gab dann Messen, zu denen ich gefahren bin, weil ich etliche Termine vorab vereinbaren konnte und mich mit Kolleginnen verabredete, Dozenten oder berühmte Autoren traf. Einige Male kamen eigene Lesungen dazu, auf dem Messegelände oder in der Stadt.
Ungefragt klapperte ich nur noch die Stände der Schulbuchverlage ab, um für Flüchtlingskinder Material zu erbetteln. Diese Bittstellerei übte ich souverän und erfolgreich aus, ich tat es für andere, das war der Unterschied.
Die Möglichkeit, auf dem Messegelände in einer Stunde zehn Lesungen zu besuchen, minutenlang zuzuhören, weiterzugehen, immer in dichtem Getümmel, immer in Bewegung, nehme ich nicht mehr wahr. Es ist eine gute Idee, wie beim Lesen auch, nach Minuten entscheiden zu können, ob mir Geschichte, Sprache, hier sogar: Vortragsweise gefallen. Ich kann mich – ohne Aufsehen zu erregen – wieder entfernen. Die zahlreichen Lesungen in all den Hallen auf dem Messegelände verleiten dazu, überall sein zu wollen, etwas aufzuschnappen, schnell ein Urteil zu bilden und weiterzuziehen. Das entspricht dem Twitter-Instagram-Zeitgeist heute noch viel mehr als vor Jahren. Mich erschöpft das. Nach einer Stunde habe ich so viele Geschichten, Schreibstile und Figuren im Kopf, als hätte ich zwanzig Trailer hintereinanderweg gesehen – und so ist es schließlich auch. Nur, dass ich dabei nicht auf dem Fernsehsessel entspanne und mittels Fernbedienung in der Hand jederzeit ausschalten könnte, sondern in den immer zu warmen gläsernen Hallen auch noch von viel zu vielen anderen Gästen eingeengt werde. Mich bedrängt fühle. Diesen körperlichen Kontakt mochte ich auf der Messe noch nie, inzwischen ist eine Grundangst hinzugekommen, die bleiben wird.
Meine Leipziger Freundin wird später davon schwärmen, wie entspannt es an diesem Donnerstag zwischen den vielen Ständen zuging – und ich werde sie erstaunt angucken und sagen: Mir ist es schon viel zu voll.
Noch sitze ich im Zug, dem dritten, das erste Umsteigen war ein Sprint, Treppen runter, Treppen hoch, Tür öffnen und erst dann zu schnaufen beginnen. Vor einem Zug zu stehen (heute) und den Türknopf zwar bedienen zu können, aber ohne Wirkung, und dann zuschauen zu müssen, wie die Waggons sich an mir vorbei bewegen, hilflos (heute), ist seit dem Erlebnis vor einem Jahr eine Horrorvision für mich. Früher – das im Gegensatz zum „heute“ – konnte man aufspringen, die Tür öffnen, sich setzen. Als Jugendliche jedenfalls, fraglich, bis zu welchem Alter das möglich gewesen wäre, gäbe es heute noch diese Züge – aber das ist ja das Schöne an Erinnerungen, sie zeigen einen so mobil, wie man einmal war.
Keine Wiederholung also und das zweite Umsteigen echt entspannt. Zielbahnhof Leipzig Messe. Die Straßenbahnen stehen noch, es ist kurz nach neun und ziemlich frisch.
Ich bin froh über meinen Presseausweis, mit dem ich nicht nur kostenfrei hinein darf, sondern auch eine halbe Stunde früher als die anderen Besucher.
Es kann losgehen.
Ich habe nur zwei Termine und ein paar geplante Recherchen zu Literaturzeitschriften, schließlich wollen wir als Verband selbst eine herausgeben. So viele Beutel wie früher benötige ich nicht, die Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchproduzenten sind längst nicht mehr so freigiebig.
Der erste Termin ist ein Gespräch mit der Verlegerin zu meinem dritten Roman, der demnächst erscheinen soll. Ein kleiner Verlag am anderen Ende des Landes, so erscheint es mir manchmal, aber über die Jahre haben wir uns etwas kennengelernt und wissen, dass wir reden können. Eine gute Grundlage.
Anschließen sollen Gespräche in unserer geliebten Oase auf dem Messegelände stattfinden, im Café Wien. Der zweite Termin verläuft jedoch nicht so erfolgreich wie der erste: das Café Wien gibt es in diesem Jahr nicht. Dabei ist Österreich doch Gastland der Leipziger Buchmesse 2023 und mit so vielen Ständen dort vertreten, dass ich auch etliche Fragen zu Literaturzeitschriften losgeworden bin.
Das Café Europa hat geöffnet, in Ordnung, dann schwatzen wir eben dort. Und treffen andere und sehen andere und drängeln uns durch die Gänge, bis es zu dem kleinen Dialog kommt zwischen meiner Freundin und mir und ich froh bin, dass ich zum Zug gehen muss.
Draußen hat die Sonne ganze Arbeit geleistet. Es ist warm wie in den Messehallen, aber die Wege sind leer, die Luft ist klar und ich freue mich, hier gewesen zu sein. Bis zum nächsten Jahr! Dann wieder Mitte März und vielleicht mit eigenen Lesungen.