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Hören statt zu lesen

Hören statt zu lesen
02. Oktober 2022

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich vor fast zwanzig Jahren mit einem mobilen CD-Träger und „Garp“ durch die Wiesen streifte. Es gibt Orte, an denen ich genau weiß, welche der Verästelungen des Romans ich damals gehört habe. Es waren mehr als zehn CDs, zwölf oder dreizehn, glaube ich, und jede füllte etwa fünfzig Minuten.

Wie komfortabel ist es heute mit dem Handy in der Tasche, das mich sowieso auf den Wegen begleitet. Ich kann auch einen achtstündigen (zuvor heruntergeladenen) Podcast hören und tue das nur deshalb nicht hintereinander, weil ich zwischendurch die Zeit brauche, um über das Gehörte nachzudenken. Technisch wäre es kein Problem.

Das Hörbuch hat mir neue Welten eröffnet, weil ich so dicke Wälzer, wie ich sie nun höre, vermutlich nicht gelesen hätte. Und noch immer ist es so, dass ich die Wege und Blumen und neuerdings Waale vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe und mich an die Sprecherstimme und den Inhalt erinnere. Von den „Brüdern Karamasow“, „Schuld und Sühne“, „Meister und Margarita“ über Kolumnen-Sammlungen bis zu „Daheim“ oder „Heimsuchung“ und „89/90“, dazu Titel aus aller Welt. Glücklicherweise gibt es die online-Bibliothek, unglücklicherweise wird dort vor allem der Mainstream bedient. Meistens finde ich doch noch etwas. Und manchmal darf ich mir sogar etwas wünschen. Stephen King zum Beispiel, dessen gruselige Kurzgeschichten beim Hören für mich eher zu ertragen sind als beim Lesen, und in denen ich die Text-Konstruktionen bewundere.

Das Wasser plätschert neben mir durch den Waal, ich fotografiere eine noch mit Morgentau benetzte Blüte und verstehe (hoffentlich) endlich, was „suspense“ bedeutet.

Das Hören kann das Lesen nicht ersetzen. Es ist umständlich, einen Satz oder einen Absatz im Hörbuch wiederzufinden, man kann nicht mal eben zurückblättern, und wenn man etwas anstreichen möchte, funktioniert das natürlich auch nicht. Selbst das Aufschreiben einer besonderen Formulierung ist aufwändig.

Es gibt auch Vorteile. Ich kann meine Augen entlasten, weil ich mich auf die vor allem grüne Landschaft konzentriere, und ich kann eben beides tun: laufen und Literatur genießen.

Es gibt nur wenige Gründe, die mich bei Vorhandensein eines Hörbuchs zum Buch greifen lassen: wenn die Stimme in meinen Ohren nicht passt. Weil sie zu schrill oder zu langsam ist, weil ein Schauspieler oder eine Schauspielerin sich mit einem filmischen Genre in mir festgesetzt haben und ich das nicht zusammenbringen kann mit dem vorgelesenen Text.

Und natürlich ist Lesen ein seit Kindertagen erfahrenes Stück Gemütlichkeit, verbunden mit einem Glas Tee und einem bequemen Sessel, möglich bei jedem Wetter. Dagegen kommt das Wandern nur schwer an.

Die Angst vor der Freude

Die Angst vor der Freude
September 2022

Es ist der Alptraum schlechthin. Ich bin eingeladen, aus meinen Romanen zu lesen, werde angekündigt (dieses Mal sogar von der Verlegerin persönlich, aber das ist nur eine Variante), habe mich hübsch angezogen und stehe bereit – nur ohne Texte. Ohne eins der Bücher, das ich notfalls von seinem sinnfreien Folienumschlag befreien könnte und aufschlagen. Ich suche jemanden, der die Mappe noch schnell aus meiner Wohnung holen kann, weiß genau, wo sie liegt. Es ist nicht nur eine Lesung, fällt mir auf, sondern ein Volksfest, immer mehr Leute strömen nach anfänglichen Buh-Rufen nun zu irgendwelchen Buden, Marktständen, ich werde sie verlieren, ich überlege hektisch, wie viele Stellen aus meinen Büchern ich inzwischen auswendig kenne und demnach auch einfach so, ohne ein Blatt in der Hand, wiedergeben könnte, mir fallen mindestens zwei ein, ich fange schon mit den ersten Sätzen an und zähle, mindestens zwanzig Minuten, eher fünfundzwanzig könnten es werden, betont und entspannt vorgetragen, sogar das kann ich mir vorstellen, aber die Angst steigt hoch: wenn ich nun an irgendeiner Stelle nicht mehr weiter weiß?

Früher habe ich von Prüfungssituationen geträumt, meistens vor der Kulisse eines riesigen Hörsaals, was für ein Unfug, in Hörsälen wurden keine mündlichen Prüfungen abgenommen.

Diese Träume steigen noch immer auf, sehr selten, dafür zunehmend welche dieser anderen Prüfungssituation: zu lesen. Dabei habe ich kein Problem damit, vor einem Publikum zu stehen, ein Referat oder eben eine Lesung abzuhalten, im Gegenteil, ich brauche das. Wenn ich es schaffe, während des Vortrags zu lauschen und wahrzunehmen, wie mucksmäuschenstill es ist, von den sieben oder zwanzig oder vierzig Zuhörern schnäuzt sich nicht einer, niemand rutscht auf dem Stuhl umher oder wickelt einen Bonbon aus – das ist der schönste Lohn, die größtmögliche Befriedigung für die tagelange Anstrengung der Vorbereitung. Das gibt so viele Endorphine frei, dass ich den restlichen Abend über zu schweben glaube. Mich so fühle, als könne mir alles gelingen.

Eine Lesung steht bevor und ich bin noch nicht ausreichend vorbereitet. Das ist schon alles, was dieser Alptraum mir sagen will. Hoffe ich, vorsichtshalber packe ich die Bücher in die Tasche. Sicher ist sicher.

Glück mit und in Künstlerhäusern

Glück mit und in Künstlerhäusern

Die aufgeführten Künstlerhäuser haben dazu beigetragen, dass ich weiter schrieb. Sie gaben mir die notwendige Zeit und die Muße dazu. Ich kenne Autorinnen, die ihren Schreibtisch in ihrem Zimmer brauchen, um konzentriert arbeiten zu können. Mich zieht es hinaus. Ich habe mit sehr viel Glück so viele Orte in Europa kennenlernen dürfen, in Zeiträumen, die jeden Urlaub sprengen würden (mein Portemonnaie sowieso), ich bin sehr dankbar dafür. Mit dem Notieren der Besonderheiten habe ich mich gern auf eine kleine Zeitreise begeben. Sollten Sie, solltest Du Fragen zu einem bestimmten Ort haben, versuche ich, weitere Auskunft zu geben. Bitte dafür das Kontaktformular nutzen.

Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran September 2022

Für Mai 2020 war ein vierwöchiger Aufenthalt in Meran vereinbart worden, nachdem die Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO) mir das Stipendium bewilligt hatte.

Stattdessen begann eine Zeit, in der Begriffe wie: Fallzahlen/Inzidenzen, Vakzine, Krankenhausbelegung, RKI, Quarantäne und Sterblichkeit Eingang in die Alltagssprache fanden und die kleinen und größeren Skandale um fehlerhafte Abrechnungen oder den Kauf von Masken zum Tagesgeschehen gehörten. Weltweit. Eine Reise nach Italien erschien mir gefährlich.

Wieder und wieder schöpfte ich Hoffnung, verschob ich den Beginn des Aufenthaltes. Ich fürchtete mich davor, dieses Stipendium nicht antreten zu können, noch mehr allerdings fürchtete ich die Infektion.

Es wurde zum dritten Mal Sommer und ich wollte nicht mehr warten. Ich kaufte Fahrkarten, die Verträge wurden geändert, die Schlüsselübergabe abgestimmt. Und dann war ich dort, in Untermais, einem Stadtteil von Meran.

Das Appartement befindet sich im sechsten Stock, ein Mini-Fahrstuhl bringt einen nach oben, wenn man nicht Treppen steigen möchte, zwei Zimmer, Küche und Bad, ein kleiner Flur. Ein riesiger Balkon, Zugang von beiden Räumen aus. Ein Luxus, wie ich ihn in anderen Künstlerhäusern noch nicht erlebt habe.

Das großzügige Atelier in Graubünden/Schweiz ist eventuell vergleichbar, aber das gibt es nicht mehr. In Ljubljana/Slowenien war die Einraumwohnung willkommener Rückzugsort gewesen, die Zwei-Zimmer-Wohnung im Salzwedler Fachwerkhaus punktete mit einer nagelneuen Kücheneinrichtung, in Pécs/Ungarn hatte ich in einer kleinen Wohnung mit offener Küche gearbeitet und mich königlich gefühlt, hier in Meran kam ich aus dem Staunen kaum heraus. Der Blick auf die Berge, selbstverständlich, reizte mich besonders, aber auch die Wohnungseinrichtung war unglaublich. Vom Induktionsherd und der umwerfend funktionalen Kücheneinrichtung über Jalousien und Sonnenschutz, Waschmaschine und Trockner, regulierbarem Spiegel, einem breiten Bett und ausreichend Kissen und Decken, bis zum höhenverstellbaren Schreibtisch und der Nachttischlampe mit USB-Anschluss. Schränke und Tische und Stühle gab es in jedem Künstlerhaus, in unterschiedlichen Qualitäten.

Den Wäschetrockner hier würde ich vermutlich ebenso wenig nutzen wie den Geschirrspüler, den Schreibtisch stellte ich mir zuerst ein. Auch ein guter Schreibtischstuhl gehört zur Ausstattung, das ist leider selten der Fall gewesen bei anderen Aufenthalten. Alles wirkt neu, obwohl es das Appartement seit sieben Jahren gibt und bei dem steten Wechsel der Bewohner eine gewisse Abnutzung zu erwarten gewesen wäre.

Dass es mich die ersten Tage dennoch hinauszog, lag an der Umgebung und dem guten Wetter. Am frühen Morgen oder am Abend ließ es sich drinnen tatsächlich herrlich arbeiten.

Aufenthaltsstipendium Glurns/Südtirol 2017

Von Estland ging es nach Südtirol. Ich hatte in Künstlerhäusern schon einiges erlebt: Gemeinschaftsküchen fast immer, Gemeinschaftsbäder manchmal, ich hatte gedacht, dass ich damit umgehen konnte. Das Haus in Glurns war anders. Mit Spanplatten abgetrennte Räume inklusive Paletten, auf denen Matratzen lagen, zwei Personen pro kleinem Zimmer ohne einen Schrank geschweige denn Schreibtisch, oberhalb einer Werkstatt. Offen. Eine Dusche für alle, eine Toilette für alle, eine kleine Küche hinter einem Tresen, das Spülbecken dauergefüllt mit schmutzigem Geschirr. Ein großer Tisch vor dem Tresen, an dem ich nicht sitzen konnte, weil er zu hoch war. Hilfsbereite Vereinsmitglieder, die mir kaum helfen konnten: für ein solches Stipendium war ich definitiv zwanzig Jahre zu alt.

Ich hatte eine weite Anreise hinter mir, ich hatte versprochen, zur Kulturnacht zu lesen und ich hatte einen Lesungstermin in Valchava/Schweiz, ich war sogar mit dem Postbus die letzte Strecke gefahren. Ich konnte nicht sofort zurück und ich fragte mich, wie ich vier Wochen aushalten sollte. Ich hatte die „Schreibmaschine“. Und die Berge. Und die Waalwege. Solche Bewässerungskanäle kannte ich bisher nur aus Madeira, dort waren wir gern entlang gewandert. So etwas gibt es also auch in Südtirol. Und ich nutzte das. Natürlich muss man erst einmal hinauf auf so einen Waalweg, aber dann läuft es sich hervorragend. Es gibt Bänke, auf die ich mich setzte und schrieb. Und schrieb. Und schrieb. Das Haus nutzte ich überwiegend dazu, alles auf den Laptop zu übertragen, was sich tagsüber an Dateien angesammelt hatte. Ich konnte sogar einen Text in einer örtlichen Zeitung veröffentlichen und lernte sehr engagierte Künstler kennen. Ich würde beim nächsten Aufenthalt etwas genauer schauen müssen, aber das war in Ordnung. Für mein Alter und meine Prioritäten konnte ich niemanden verantwortlich machen.

Aufenthaltsstipendium Mooste/Estland 2017

Es war Mai. Und nur, weil das kommende Stipendium schon auf mich wartete, fuhr ich nur für zwei Wochen nach Estland. Mitten hinein, sozusagen, in ein Künstlerhaus auf dem Lande, unter dem Namen MoKS. Ich hatte zwei riesige Räume für mich, einen mit einem uralten Kachelofen, an einem der vielen Fenster stand der Schreibtisch. Ich recherchierte noch einmal in Tartu, das nun nicht mehr so weit entfernt war, und wanderte zum Peipussee, einem der größten Binnenseen Europas, an der estnisch-russischen Grenze gelegen. Die Gemeinschaftsküche hatte ich fast für mich allein, die gemeinsame Badnutzung hielt ich aus, die Sauna nutzte ich gern. Es gab Wanderungen mit Angestellten und Fahrten zu geschichtsträchtigen Häusern und Orten. Obwohl ich nur wenige Tage dort verbrachte, lohnte sich der Aufenthalt.

Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Salzwedel 2016

Drei Monate lang war ich Landesstipendiatin Sachsen-Anhalts. Ein ausgesprochen angenehmes Gefühl, so belohnt zu werden. Mit Presseterminen, Lesung, einer Zwei-Zimmer-Wohnung in einem alten Fachwerkhaus in der Salzwedler Altstadt. Mit einem Hof und einem zweiten Gebäude direkt an der Stadtmauer, die von Bildenden Künstlern genutzt wurde, und auf dem ich in einer Ecke Kräuter pflanzte und ein paar Blumen. Die Küche ist der schönste Raum, funktional, neu ausgestattet und riesig, im Arbeitszimmer stehen ein gläserner Schreibtisch und eine Couch und im kleinen Raum Bett und Kleiderschrank. Die Kirchenglocken schlagen alle fünfzehn Minuten, so wusste ich auch nachts, wie spät es gerade war, durch den nahen Park und entlang der Jeetze konnte ich laufen und mich entweder auf dem Hof oder auf eine der Bänke im Park setzen zum Schreiben.

Das alte Fachwerkhaus beherbergt außerdem ein Ein-Zimmer-Appartement für ehemalige Stipendiaten. Weniger luxuriös als die eigentliche Stipendiatenwohnung, dafür ein Domizil, das ich in den vergangenen Jahren mehrmals nutzen durfte. Für zwei oder vier Wochen, in denen ich so intensiv arbeiten konnte wie ich es zu Hause im Alltag nicht geschafft hätte.

Mein Beet ist inzwischen neu verlegten Pflastersteinen gewichen, aber das kann ich verschmerzen. Zwei Stunden Autofahrt oder mit der Bahn und ich bin in einer anderen Welt. Die ich kenne und wiedererkenne, in der ich mich wohlfühle und gut schreiben kann.

Aufenthaltsstipendium Kärsämäki/ Finnland 2014

Finnland hatte mich gefangen – vier Jahre zuvor. Nach Jyväskylä in das Künstlerhaus konnte ich nicht mehr, nach Järvelinna, wo meine Freundin inzwischen arbeitete, kam ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum. Ich suchte und fand: Kärsämäki. Südlich von Oulu gelegen, ein großes Haus, in dem die Angestellten des Vereins tagsüber arbeiteten und sich im Obergeschoss Zimmer für die Stipendiaten befanden. Das Bad „für alle“ störte mich nicht, denn ich war allein. In einem großen Zimmer mit Blick auf den Fluss und eine Kirche. Vor dem Haus wuchs eine meterhohe und viele Meter lange Hecke aus Aroniabüschen. Ein paar Kilometer entfernt gab es einen Waldsee. Es war sehr warm in diesem August, aber die – noch immer – mitgeführte „Schreibmaschine“ passte in jeden Rucksack und Schreib-Plätze an Flussufern, am Wegesrain oder eben am See fanden sich immer.

Am beeindruckendsten waren die Menschen. Eine ehrenamtlich tätige Frau reiste zur Versammlung aus Rovaniemi an und als sie hörte, dass ich gern den Nationalpark besuchen wolle, lud sie mich ein. Wir fuhren in ihrem Auto nach Rovaniemi, ich übernachtete bei ihr, besuchte selbstverständlich den Weihnachtsmann und wurde am Morgen von ihr zum Zug gebracht. Kemijärvi – Stadt und See – liegen bereits in Lappland und das war mein Ziel. Das Wandern bis auf den „Hexenberg“ im Pyhä-Luosto, dem ältesten Nationalpark Finnlands, war Sport und Erholung zugleich. Zurück in Rovaniemi wurde ich noch mit anderen Schriftstellerinnen und Literaturliebhaberinnen bekannt gemacht, bevor es zurück ging nach Kärsämäki.

Ob es das Haus noch gibt, weiß ich gar nicht. Schon, als ich dort war, kämpfte der Verein um den Erhalt, um Fördermittel und Finanzierungsmodelle.

InterStip des Landes Brandenburg/ Recherchestipendium 2013 bis 2014

Im Jahr 2013 erhielt ich das InterStip des Brandenburgischen Kulturministeriums und konnte für die erforderlichen Recherchen nach Polen, Estland und noch einmal nach Lettland reisen.

In Krakow wohnte ich in der renommierten Villa Decius drei Wochen lang im Monat April, der mit einem Schneetreiben begann und mit den hellgrünen Kastanienblättern für mich endete. Wenn ich nicht gerade die Umgebung erlief oder Archive besuchte, saß ich am Schreibtisch in einem geräumigen und hellen Zimmer (zwei Fenster bis zum Fußboden) und blickte auf den weitläufigen Park. Die Gemeinschaftsküche war sauber und selten überfüllt, mit allem ausgestattet, was eine Köchin erfreut. Der Park wurde mein zweiter Schreibort. Nahe dem Denkmal Chopins saß ich dann, auf einer der zahlreichen Bänke.

Es war der erste Aufenthalt, für den ich bezahlte – vom Stipendium des Landes.

Im Oktober reiste ich nach Estland. Das Haus des estnischen Schriftstellerverbandes steht im Sommer den einheimischen Autorinnen zur Verfügung, die dann auch schon mal in Familie anreisen. Das Haus steht in Käsmu, einem Ort im Naturpark Laheema, etwa siebzig Kilometer von Tallin entfernt. Da mein Gepäck nicht mit mir angekommen war, durfte ich eine Nacht in Tallin verbringen, und mein erstes Gefühl, das sich in den Weiten des Nationalparks noch verstärken sollte, war: Estland ist Finnland auf sozialistisch. Hinweise gab es allerorten auf Estnisch und Russisch, ich verstand also mehr als in Finnland, die Landschaft war sehr ähnlich, die Preise waren sehr moderat, Busfahrten kosteten nicht viel mehr als fünfzehn Jahre zuvor in der DDR.

Es gab im unteren Bereich des Hauses eine große Küche, insgesamt fünf Arbeits- und Schlaf-Räume, meiner befand sich oben und war recht klein, dafür mit einem zusätzlichen Kohleofen ausgestattet. Über den Hof gelangt man zur Sauna, die sogar eigens für mich geheizt wurde, in der Woche, als ich ganz allein im Haus war.

Ich lief und schrieb und recherchierte, und das einzige, was mich bedrückte, war der unverhohlene Hass auf alles, was Russisch war. Nicht bei allen Menschen. Fragte ich nach dem Weg, halfen die erlernten und hervorgekramten Vokabeln, aber sobald ich ein Museum betrat, schienen die Menschen vollkommen anders zu sein.

Manchmal dachte ich, das würde mir zu Hause vielleicht auch passieren, wenn ich ein ehemaliges Stasi-Gefängnis besuchen würde. Es half nur bedingt.

Die Landschaft indes war großartig, ich konnte stundenlang am Meer entlanglaufen, dann wieder durch den gepflegten Naturpark, und fuhr sogar bis nach Tartu, kurz vor der russischen Grenze. Die Recherchen und bereits in Text umgesetzten neuen Kenntnisse füllten Seite um Seite.

Für zwei Wochen reiste ich im März 2014 noch einmal nach Ventspils/Lettland und wieder traf ich die unglaublich beeindruckende alte Frau und setzte meine Recherchen fort.

Ventspils/Lettland Juni 2012/März 2014

Die Anreise nach Lettland ist ebenfalls umständlich, war sie jedenfalls bei meinen Aufenthalten. Früher gab es eine Bahnverbindung, nun musste ich von Riga aus drei Stunden mit dem Bus fahren. Ventspils war es wert. Extrem sauber, mit unglaublich vielen Spielplätzen, Parks, Grünanlagen – und natürlich dem Meer. Mit Dünen, über die man laufen darf, mit einer „Kantina“, in der es noch immer so riecht wie früher in der Betriebskantine, mit einem Markt, auf dem man frische Milch vom Fass kaufen kann und je nach Portemonnaie entscheiden, welches Stück vom frischen Lachs man in die Pfanne der Gemeinschaftsküche legt. Die Zimmer sind unterschiedlich groß, mit eigenem Bad und Blick auf den Platz oder in den Garten, es gibt eine Sauna, einen großen Kaminraum, in dem gemeinsam gegessen werden konnte (und wurde), wenn jemand für alle gekocht hatte. Oder gebacken. Oder gebraten. Es wurde viel getrunken und geredet, und wieder gefiel es mir, Vokabeln sortieren zu müssen, um mitreden zu können.

Eines Tages traf ich auf die Geschichte der Stadt und der Region, die mich seitdem nicht mehr loslässt. Deutsche Geschichte. Mitten in der ehemaligen lettischen Sowjetrepublik, die sich allerdings von einer extrem Russen hassenden Seite darbot – übertroffen worden ist das später nur noch in Estland.

Ich recherchierte, ich lernte eine fast neunzigjährige Frau kennen, die mich von einem Ort zum nächsten führte und mir berichtete, wie es vor siebzig Jahren ausgesehen habe. Sie warf all meine Pläne um. Ich begann, darüber zu schreiben, ohne zu ahnen, wie viele Jahre mich das Projekt beschäftigen würde.

Literaturhaus Paros/ Griechenland Oktober 2011

Griechenland ließ mich nicht los. Ich konnte mich nicht jedes Jahr für einen Aufenthalt auf Rhodos bewerben, also versuchte ich es auf Paros. Die Insel hatte ich gar nicht so gut in Erinnerung. Während eines Insel-Hüpfens stand sie im Schatten der beeindruckenden Nachbarinsel Naxos und ich wusste noch, dass ich in einem Fischerdorf auf Paros unglaublich gefroren hatte. Aber dann war ich in diesem kleinen Bergdorf und musste den Weg ans Meer erst einmal bewältigen. Die Zimmer waren griechisch, ein riesiger Balkon gehörte dazu und eine Gemeinschaftsküche, in der sich tatsächlich Menschen aus aller Herren Länder trafen und kochten. Und probierten, was die anderen gekocht hatten. Eine Theatergruppe aus Athen bestimmte ein paar Tage lang das Geschehen, dann zogen sie weiter. Andere Stipendiaten, die darauf aufmerksam geworden waren, dass ich Apfelsinen und Zitronen suchte, brachten täglich neue in die Küche, dazu Granatäpfel und Feigen.

Inzwischen hatte ich Wege ans Meer gefunden und blieb nicht mehr in der Macchia hängen und als ich am 8. November ins Flugzeug stieg, konnte ich auf die längste Schwimmsaison zurückblicken, auch, wenn ich am Tag zuvor nur noch kurz hineingesprungen war in die inzwischen mannshohen Wellen.

Dieses Literaturhaus gibt es heute leider nicht mehr.

Schloss Haldenstein/ Schweiz Juni 2011 und September/ Oktober 2012

Mein erster Aufenthalt in der Schweiz. Ich konnte mich an den weidenden Kühen, den Bergspitzen, über denen die Sonne aufging, dem rauschenden Wasser kaum sattsehen. Das Atelier war riesig, die Küche und das Bad waren sehr modern, trotzdem zogen mich die Berge hinaus. Ich schrieb fast ausschließlich Miniaturen, ich wollte meine kitschigen Eindrücke nicht in meine Texte lassen. Ich aß, was am Wegesrand für mich bereitlag, ich steckte mein Geld in Fahrkarten. Graubünden war viel zu groß für fünf Wochen, aber meine Liebe war geweckt.

Nach der Ermunterung des Kulturbeauftragten schickte ich wenig später eine Bewerbung los (einen Bewerb), mit einigen der Miniaturen und dem Wunsch, wiederzukommen. Eine Lesung zu organisieren. Es klappte und das reichhaltige Barstipendium, das ich zusätzlich zu vollen acht Wochen Aufenthalt erhielt, setzte ich eins zu eins in Fahrkarten um und erkundete Graubünden. Eine Lesung war für das Ende des Aufenthaltes geplant – doch statt der Miniaturen setzte ich Doris und Jana auf meine Schultern und wir wanderten durch die Berge, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, von Gletschern bis hinter die Grenze nach Lugano, wo ich endlich Hermann Hesse (oder doch nur den Örtlichkeiten) einen Besuch abstatten konnte. Zudem hatte ich mir einen großen Traum erfüllt und stand eines Nachmittags auf dem „Zauberberg“ in genau dem Zimmer, in dem Thomas Mann gearbeitet hatte.

Es wurde eine besondere Lesung, wie ich sie leider hierzulande noch nicht erlebt habe. Es gab anschließend einen Imbiss, während zu Hause der Wein vorab ausgeschenkt wird, und vielleicht auch deshalb sehr gute Gespräche.

Leider gibt es das Atelier nicht mehr als Künstlerdomizil, es wurde verkauft und ist nun eine Wohnung.

Den Kontakt hielt ich noch eine Weile und durfte fünf Jahre (und eine Buchveröffentlichung) später in Valchava lesen. Mit einem damals unglaublichen Honorar, einem vorhergehenden Abendbrot und einer beeindruckenden Moderation. Anschließend wurde ich sogar noch über die Grenze gefahren, denn zu der Zeit weilte ich zum ersten Mal in Südtirol.

Wohnung des Slowenischen Schriftstellerverbandes/ Ljubljana Januar 2011

Die Einladung des slowenischen Schriftstellerverbandes zu erhalten, bedeutete mir viel. Die Neubauwohnung war zugig, ich saß in der Küche und heizte mit dem Backofen. Nachts schlief ich mit einem Tuch um den Hals. Vor allem jedoch war ich unterwegs – mit Zügen, die alle Erinnerungen an meine Jugendzeit zurückbrachten und mich doch bis zur ungarischen Grenze und bis ans Meer brachten. Ich wanderte und staunte und schrieb.

Kulturhafen Cetate/ Rumänien 2010

Den Oktober 2010 verbrachte ich an der Donau. Einem Donauknie, auf dem feudalistisch anmutenden Hof eines berühmten rumänischen Lyrikers. Vollverpflegung bedeutete hier, dass Fisch und Fleisch nebeneinander gereicht wurden und es mittags schon Wein gab. Oft noch einen Birnenschnaps dazu, ich konnte tagelang beim Destillieren zuschauen. Auch die Gänse allerdings, die ich morgens noch schnattern gehört hatte, landeten auf den Tellern – das Bild der Küchenfrauen, wie sie die Gänseköpfe zum Abbrennen über die Gasflamme hielten, bleibt unvergessen. Aber auch das Grillen der Paprika, das Einlegen, die langen Wanderungen in den Auen, die märchenhaft anmutenden Karren, mit denen ganze Familien Brennholz für den Winter ins Dorf brachten. Und die Mäuse. Die in meinem Zimmer wohnten und sich nicht vertreiben ließen. Ich konnte sie nur mittels Plastetüte im Papierkorb fangen und hinaustragen.

Künstlerwohnung Pécs/Ungarn Januar 2010

Wieder einmal erfuhr ich großes Glück. Die Wohnung in der europäischen Kulturhauptstadt 2010 sollte eigentlich an einen Künstler aus NRW vergeben werden – nur fand sich wohl niemand. Ich hatte einen ungarischen Autor im Sommer zuvor in Lettland kennengelernt – ohne zu wissen, dass dieser nun in der Jury sitzen würde. Und mich fragte, ob ich an dem Aufenthalt in Pécs interessiert wäre. Natürlich!

So bewohnte ich vier Winterwochen lang das kleine Appartement und schrieb an meinem ersten Roman, der letztlich als zweiter veröffentlicht werden sollte. Ich besuchte die Eröffnungsveranstaltung zur europäischen Kulturhauptstadt, staunte über Kirchen, die im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlichen Religionen ein Dach geboten hatten, notierte Eindrücke aus der Stadt und dem Land und verfasste Texte, die auch in das Jahrbuch Pécs Eingang fanden. Zum Abschluss gönnte ich mir vom großzügigen Stipendium zwei Tage in Budapest, genoss die Bahnfahrt in „sozialistischen“ Zügen und stapfte durch meterhohen Schnee zur Burg hinauf.

Ich hatte Ungarn zuvor nie besucht und lernte – verglichen mit vielen DDR-Bürgern, die Urlaube hier verbracht hatten – auch ein verändertes Land kennen. Den Balaton habe ich nur von Ferne gesehen, die Schneefülle war untypisch, aber ich bin sehr froh, diese Chance des Stipendiums genutzt zu haben.

Künstlerwohnung Soltau 2009/ 2012/ 2016

Der Weg nach Soltau war schneeverweht und sehr lang. Dafür empfing mich ein Appartement unterm Dach, gleich neben der Bibliothek. Eine Mini-Küche, ein kleines Bad – und ein riesiger Raum zum Arbeiten. Das Mühlrad rauschte (in den ersten Nächten sehr störend), ich konnte lesen und schreiben und vor mich hinträumen, hinausgehen und laufen, ungezählte Winterfotos schießen und mich mit etlichen Hunden anfreunden. Zum Stipendium gehört eine Lesung, diese nicht organisieren zu müssen, sondern einfach nach unten zu gehen, war fantastisch. Ich genoss die Wochenmärkte in der Stadt, die Torten im Café und die besondere Betreuung durch die verantwortlichen Vereinsmitglieder.

Obwohl die Anreise (nicht nur wegen des Wetters) umständlich war, wäre ich gern jedes Jahr oder jedes zweite Jahr wiedergekommen. Aber inzwischen hatte sich wohl herumgesprochen, wie gut es sich unterm Dach arbeiten ließ und natürlich gönnte ich anderen diese Erfahrung auch.

Writers in ressidence Jyväskylä/ Finnland 2008

Vom griechischen Frühsommer ging es wenig später in den finnischen Sommer. Die Mückenplage habe ich glücklicherweise verpasst. Dafür fand ich in einer Aushilfsangestellten eine Freundin, mit der mich heute noch viel mehr verbindet als diese unaussprechliche Stadt mit den zahlreichen unaussprechlichen Seen. Das Künstlerhaus hatte einen Gartenbereich und einen großen Konferenzraum, in dem auch Lesungen stattfanden. Das Zimmer, das mir zur Verfügung gestellt wurde, war nicht nur spartanisch eingerichtet, sondern extrem schmal. Für mich war der Raum nicht zum Arbeiten geeignet, das Bad teilte ich mit zwei anderen Stipendiaten, an die Preise in den Geschäften musste ich mich erst gewöhnen, Gaststätten mied ich. Glücklicherweise gab es die Natur kostenlos, dafür in einer berauschenden Fülle. Ich umrundete die Seen, badete, setzte mich ans Ufer und schrieb. Finnland hatte mich gefangen.

Das Haus wurde inzwischen verkauft.

IWTC Rhodos 2008/2010/2014/2018/2019

Und dann war es soweit: sechs Wochen Frühsommer unter griechischer Sonne!

Rhodos sollte eine meiner Schreibheimaten werden. Ich kannte einige griechische Inseln, ich liebte die Landschaften, das Meer sowieso, die Menschen. Nach Rhodos wäre ich im Urlaub nicht gereist, viel zu touristisch dort. Der Frühsommer war perfekt. In den folgenden Jahren schaffte ich es sogar einmal, Mitte Februar anzureisen. Nur zweimal konnten es sechs Wochen sein, sonst weniger, und nicht jedes Jahr wurde ich eingeladen. Aber immer dann, wenn die ersten Kreuzfahrtschiffe im Hafen anlandeten und die Strände sich mit Sonnenliegen füllten, flog ich zurück.

Das altehrwürdige Gebäude hoch oben (wohin man auch den Koffer ziehen muss, sofern man nicht ein Taxi bemüht) kann bist zu fünfzehn Stipendiaten aufnehmen. Ausschließlich Schriftstellerinnen und Übersetzerinnen, das war etwas Neues für mich. Es war hervorragend.

Die Zimmer waren griechisch spartanisch eingerichtet, ein Kühlschrank stand darin (dessen Gebrumme mich meistens störte, aber selbst daran kann man sich gewöhnen), ein Schreibtisch, ein Bett. Die Gemeinschaftsküche hatte ich – sofern das Haus nicht ausgebucht war – überwiegend für mich allein. Das Wichtigste, was man – auch, wenn ich das Deutsche nicht gern hervorkehre – sich abgewöhnen muss, ist, ständig zu putzen. Damit wird man nämlich nicht fertig und verschwendet Zeit. Mein Frühstück nahm ich gern auf der Treppe sitzend ein – und schaute aufs Meer. Die meisten anderen schliefen dann noch. Wenn die Angestellten ihre Arbeit begannen, kam ich oft schon vom Schwimmen zurück und wenn die anderen aufstanden, war ich auf dem Weg. Zu irgendeinem Ort, wo ich staunen, laufen und schreiben würde. Das konnte ein mittlerer Fußmarsch werden oder eine Bustour, oder ich setzte mich unterhalb des Apollo ins Stadion und zog mit der Sonne herum. Ich fand überall Lieblings-Schreibplätze.

Im Künstlerhaus verständigten wir uns Englisch, das trug nicht nur dazu bei, dass ich meine Sprachkenntnisse auffrischen konnte, sondern auch dazu, mir über Dinge klarzuwerden. Ich spreche nicht fließend Englisch, also musste ich überlegen, wie ich etwas formuliere: woran schreibe ich, weshalb, was geschieht, weshalb agieren die Figuren so und nicht anders. Es war eine innere Werkstatt, die mir manchmal schon durch das Übersetzen die richtigen Fragen stellte.

Im Frühsommer 2019, als für das kommende Jahr nur die Komplettrenovierung geplant war und niemand ahnte, wie lange mich die Viren vom Haus fernhalten würden, regnete es jeden Tag. Ich lernte das Schreiben in Cafés, von dem eine Bekannte schwärmt und wofür ich mich nie so recht hatte erwärmen können. Nach Griechenland passte es perfekt. Das Gemurmel der anderen Gäste konnte mich nicht ablenken, ich verstand es ja nicht. Es war wie das Wellenrauschen am Strand – nur, dass ich neben dem Tisch auch griechischen Mokka genießen konnte und eine Toilette in der Nähe wusste. Die Kellner störten mich nicht – so geduldige und gelassene habe ich woanders nie angetroffen. Ich konnte Stunden so zubringen: vor einem Mokka und dem Glas Wasser, das ich wiederholt auffüllen durfte.

Die Angestellten des Künstlerhauses arbeiteten auch am Wochenende, oft mit Schulklassen, die das untere Gebäude dann in Beschlag nahmen. Ich hatte jeweils ein Zimmer im Obergeschoss und wenn es einmal zu laut wurde, setzte ich mich auf die Treppe und arbeitete dort weiter. Ich war schließlich in Griechenland und dafür war es sehr ruhig.

Stiftung Künstlerdorf Schöppingen 2007/2008

Aus Schöppingen erhielt ich einen Anruf. Ich konnte es kaum glauben, ich hatte einen viermonatigen Aufenthalt bewilligt bekommen. Letztlich wurden es sogar fünf Monate, und obwohl es eine weite Anreise war, bleibt dieses Stipendium als das beste in Erinnerung. Das liegt vor allem daran, dass sich meine Vorlieben und Bedürfnisse zwischenzeitlich verändert hatten und ich mich dem Rhythmus einer Vollverpflegung mit Zeiten und Gerichten weniger gern unterwerfen wollte. Jedes Appartement verfügt über eine kleine Küche, Geschäfte gibt es fußläufig ausreichend, und wer mochte, konnte in der riesigen Gemeinschaftsküche mit anderen brutzeln. Es liegt aber nicht nur an der Selbstbestimmtheit, sondern an den Autorinnen, die ich während meines Aufenthaltes dort kennenlernen durfte. So unterschiedlich sie waren: von verpeilt über extrem zurückhaltend, verkopft oder dauererzählend, so liebenswürdig agierten sie. Wir führten heftige politische Diskussionen, philosophierten und sprachen stundenlang über Literatur und das Schreiben. Die Runden am Kamin, nach getaner Arbeit, versteht sich, gab es ganz sicher auch zuvor oder danach, aber unsere waren die besten.

Denkmalschmiede Höfgen 2007 und 2009

Die Denkmalschmiede Höfgen liegt im wunderschönen Muldetal. Der Raum, den ich während der ersten acht Wochen bezog, war klitzeklein und dunkel. Über mir tappte ein Lyriker permanent über die Dielen, die Fenster befanden sich in Höhe des Pflasters eines großen Innenhofes. Ich hatte mein eigenes Bad, mit einer Wanne, in der ich eines Abends – nach dem Empfang der Email aus Griechenland – planschte und prustete wie ein kleines Kind. Es würde weiter gehen, mein Glück riss nicht ab, ein Jahr später könnte ich den Frühsommer auf Rhodos erleben.

Doch zuerst war es Sommer nahe Grimma, und ich schrieb weiter. Meistens draußen, zwischen Zickzackweg und den Ufern der Mulde, unter Kastanien und Kirschbäumen. Wiederum war es ein Aufenthalt mit Vollverpflegung, um solch profane Dinge musste ich mich nicht kümmern. Zwei Jahre danach verbrachte ich noch einmal acht Wochen dort – und dieses Mal sogar in dem geräumigen Obergeschoss des zweiten Hauses, wo ich tatsächlich ein Manuskript Seite für Seite auf dem Teppichboden auslegte und – mit Stift und Schere bewaffnet – die Geschichte neu anordnete.

Leider gibt es dieses Künstlerhaus nicht mehr – als Stipendienort. Man kann dorthin fahren, einige der ehemaligen Stipendiaten tun das bis heute, weil die Inspiration garantiert ist. Für alle anderen bleibt es eine nicht gerade preiswerte Unterkunft an der Mulde.

Röderhof im Huy März-Mai 2007

Im Jahr 2007 verbrachte ich den beginnenden Frühling bis zum Frühsommer – drei Monate nämlich – im Röderhof unweit von Halberstadt.

Ein riesiges uraltes Haus, früher einmal Brauerei, das nun neben den Räumlichkeiten für den eigens gegründeten Verein zwei Behausungen für Stipendiaten bereithält. Es gab ein gemeinsames Bad, das eigentlich der Heizungsraum war, dafür nahmen die Arbeits-, Schlaf- und Kochareale innerhalb eines Zimmers soviel Platz ein wie eine Dreiraumwohnung ohne Zwischenwände. Fenster zu zwei Seiten und viele davon. Platz zum Tanzen oder um Manuskripte vollständig auf den Dielen ausbreiten zu können. Der Huy vor der Tür, Vorharz, Wege und Kloster und Gaststätten und bis Halberstadt gerade einmal fünf Kilometer. Ein Traum von einem Aufenthalt, sofern man mobil ist und die Einsamkeit genießen kann. Ich liebte sie. Es hatte eine Woche oder noch etwas länger gedauert, bis dieser riesige Raum etwas erwärmt war, ich gewöhnte mich an das geteilte Bad und ich lief. Mit einem batteriebetriebenem Vorgänger des Laptops, einem Schulheft, Diktiergerät oder zwei von einer netten Kellnerin gereichten Servietten. Ich schrieb noch viel mehr als in Wiepersdorf und dieses Mal waren es keine versprengten Miniaturen, ich wusste, es würde ein längerer Text werden.

Den Verein gibt es noch, die Kommunikation ist nicht leichter geworden. Alle arbeiten ehrenamtlich, Bewerbungen gibt es zuhauf. Ich würde dorthin auf jeden Fall noch einmal fahren wollen. Nur darf man sich nicht zweimal bewerben.

Schloss Wiepersdorf Mitte August bis Mitte Dezember 2006

Es war mein erstes Aufenthaltsstipendium, das sagt eigentlich schon alles. Wenn es keine positive Erfahrung gewesen wäre, hätte es die nachfolgenden Stipendien nicht gegeben. Weil ich mich nie mehr darum beworben hätte. Dieses Bewerbungsverfahren (bei allen Stipendien) muss man wollen. Und aushalten. Im Schnitt erhielt ich bei zehn Bewerbungen genau eins. Würde sich ein Arbeitsloser vielleicht wünschen, solch eine Quote, für mich war es manchmal sehr schwer zu ertragen. Die stundenlang geführten Recherchen zum Ort oder der Region, vorherigen Stipendiaten, neben der eigentlichen Arbeit, sich zu verkaufen, Textproben zu verkaufen und alles korrekt einzutüten, mündete dann in einen Vierzeiler, der gar nichts aussagte. Noch schlimmer ging auch – dann erfuhr ich gar nichts. Beziehungsweise bei erneuter Recherche, dass der Platz anderweitig vergeben worden war.

Wiepersdorf ist als Einstieg unschlagbar.

Vier Monate lagen damals vor mir, Sommer, Herbst und fast noch der Winter, eine endlos scheinende Zeit nicht sehr weit fort von Zuhause, recht nah am Beginn meines literarischen Schreibens und der Startpunkt für den Versuch, mich allein darauf zu konzentrieren.

Die Zimmer im ehemaligen Pferdestall (darüber wäre korrekter) sind sehr klein. Bett, Schreibtisch, Schrank und ein Bad, das wars. Internet gab es damals ebenso wenig wie ich einen Laptop besaß, also verbrachte ich unterm Dach in einem riesigen Raum sehr oft allein die Stunden an einem Computer und speicherte die neuen Texte jeweils auf eine CD. Wir waren mehr als zehn Stipendiaten aus allen möglichen Bereichen: von Bildender Kunst unterschiedlicher Facetten über Performance, Komposition bis hin zu den literarischen Gattungen: Theater, Lyrik, Krimihörspiel, Roman. Und ich. Neuling.

Das Stipendium beinhaltet auch eine Vollverpflegung. Damals genoss ich es sehr. Aufstehen, sich an den gedeckten Tisch setzen, hinausgehen und mittags zu der Qual der Wahl verschiedener Gerichte wiederkommen. Niemand, so wurde seit Jahrzehnten im Haus berichtet, würde es während des Stipendiums schaffen, sein Gewicht zu halten.

Es gab „Salonabende“, an denen wir uns im Schloss trafen, es gab gemeinsame Spaziergänge oder Runden durch den Park, ich liebte und zelebrierte das Alleinsein genauso wie die Gespräche mit anderen Künstlern. Heute heißt das interdisziplinäres Arbeiten, sich gegenseitig inspirieren. Ich schrieb sehr viel in diesen Wochen und Monaten, auf einer Bank im Park, an einem kleinen Teich, im Zimmer, es waren Versuche und letztlich fanden nicht sehr viele Sätze in spätere Texte, aber zum ersten Mal füllte ich meine Tage damit, Dinge zu notieren und es gefiel mir sehr.

Eines jedoch gab es in Wiepersdorf nicht: Arbeitsgespräche. Das hatte ich mir komplett anders vorgestellt. Aber der Hörspielautor wollte mich nicht in die Struktur seiner Texte einweihen, der Lyriker gab mir nur das zu lesen, was ohnehin veröffentlicht war, die Theaterautorin war bis über beide Ohren mit einer bevorstehenden Premiere beschäftigt und der Romanautor wollte lieber mit mir über die Weltpolitik reden, was mich natürlich ebenfalls interessierte. Die Textbesprechungen, von denen ich mir so viel versprochen hatte, fanden nicht statt. Das war schwer zu begreifen für mich, damals, während dieses ersten Aufenthaltes. Es ist aber nicht nur in Wiepersdorf so und es hängt immer davon ab, mit wem man diese Zeit erlebt. Dass es auch anders möglich ist, erfuhr ich erst ein paar Jahre später.

Dennoch war dieses erste Aufenthaltsstipendium immens wichtig für mich. Ich fühlte mich angenommen, beachtet – und wer mag das nicht.

Schreiben oder Leben: Meran

Schreiben oder Leben: Meran
26. September 2022

Ich sitze an einem höhenverstellbaren Schreibtisch (perfekt eingestellt) mit Blick auf das Bergpanorama und schaue den Wolken zu, die sich langsam über die heute Morgen bestaunten Schneegipfel schieben. Ein Luxusappartement! Dazu mehr unter: Künstlerhäuser. Sofern ich dazu komme, dort etwas hineinzuschreiben. Die schon ausgeführte Frage stellt sich in diesen Tagen nämlich noch einmal neu.

Hier gibt es keine Familie, keine Pflichten, keinen Postboten, der ein Paket für die Nachbarin abgeben möchte. Vierundzwanzig Stunden täglich zum Schreiben. Ich habe mich danach gesehnt. Nicht danach, stundenlang am Schreibtisch zu sitzen, sei er auch noch so komfortabel, das könnte ich aus vielerlei Gründen nicht. Aber an mindestens zwei unterschiedlichen Projekten zu arbeiten, den Blog zu vervollständigen, vielleicht etwas ganz Neues zu beginnen. Aber da sind diese Berge… um das gesamte Tal herum blinzeln sie mir zu, besonnt oder schattig, bewaldet oder karg. Und da ich schon einmal vier Wochen in Südtirol wandernd zugebracht habe (aus ganz anderen Gründen, die ich hoffentlich einmal aufschreiben werde), weiß ich um das Vinschgau und die vielen Waalwege, das Stilfser Joch und die Almen.

Der Beginn war vielversprechend. Schon im Zug sitzend begann ich zu schreiben, Dank des in letzter Minute gewechselten Akkus für den Laptop, zusätzlich nutzte ich die Diktierfunktion des Handys, ich war bereit. Nach der elendig langen Anreise allerdings nur noch vollkommen geschafft. Und am nächsten Morgen zog es mich hinaus. Und am übernächsten. Und so weiter. Für einen ausgemachten Flachländer ist der Abend nach einer Wanderung zwar lang – aber der Kopf so gefüllt, das kaum noch etwas aufs Papier oder in die Tastatur gelangen kann.

Es wird Regentage geben, beruhige ich mich selbst, die Wettervorhersage ist erstaunlich präzise, ich kann am Vormittag draußen sein, bis elf Uhr vielleicht, und mich danach an den Schreibtisch setzen. Nur schiebt sich der Einsatz der Tropfen von zwölf auf eins auf zwei und so lange bin ich eben auch draußen. Wenn es dann losprasselt, brauche ich erst einmal eine Pause.

Ich habe den gesamten Sommer über fleißig geschrieben, ich habe mir eine kleine Auszeit vom Schreibtisch wahrlich verdient, flüstert das für Bewegung zuständige Hirnareal. So laut, das alles andere übertönt wird. So eindringlich, dass ich nur vom Laptop aufschauen muss und die Berge anschauen, um zu wissen, dass ich auch am kommenden Tag wieder irgendwohin laufen werde.

Schließlich kann ich nicht immer hier sein, die Berge mitnehmen funktioniert auch nicht, also nutze ich die Zeit. Ein wenig anders halt als geplant.

Mitten in der Pandemie hatte ich in einem Interview gesagt, dass mir vor allem fehlt, unterwegs sein zu können, weil ich das für das Schreiben dringend brauche. Die Landschaften, die Gerüche, die Menschen, die mir begegnen, die kurzen oder längeren Gespräche, der Alltag. Aus dem ich schöpfen möchte und muss für all die Texte, die in mir schlummern und geschrieben werden wollen.

Also gut. Wandern als Sammeln. Von Eindrücken, Begegnungen, Geschichten am Wegesrand. Und los.

Schreiben versus Lesen versus Leben

Schreiben versus Lesen versus Leben
30. August 2022

Viele Jahre lang habe ich mich darüber gegrämt, jedes Mal entscheiden zu müssen, ob ich lieber lesen solle oder selbst schreiben. Ich kann – sofern ich tagsüber an meinen Texten gearbeitet habe – am Abend eine Kinder- oder Jugendgeschichte lesen, einen Krimi (lese ich aber nicht gern). Literarische Romane zu lesen, während ich selbst eine Geschichte entwickle, funktioniert bei mir nicht. Beziehungsweise stelle ich jeweils nach einigen Tagen fest, dass ich unbewusst den Stil des gelesenen Autors imitiere und das ist meistens gar nicht lustig, denn wenn auf Christa Wolf Stefan Zweig folgt oder Max Frisch, ist das definitiv nicht mehr mein Stil – so sehr ich das auch bedauere. Also habe ich mir angewöhnt, entweder zu lesen oder zu schreiben. Beschäftige ich mich mit einem längeren Text, gibt es nur diesen, muss der ruhen, lese ich. Mehrere Bücher hintereinanderweg weg, oft auch parallel.

Seit ein paar Monaten stellt sich die Frage: Lesen oder schreiben? plötzlich neu. Anders. Es geht nicht mehr darum, zu schreiben oder zu lesen, sondern darum, zu schreiben oder zu leben.

Es ist Sommer, ich gehöre selten zu den abendlichen Gästen der Restaurants oder Biergärten, ich genieße die milde Nachtluft, ansonsten ändert sich mein Tagesrhythmus nur wenig. Vielleicht hängt es mit dem Alter zusammen, mit Lebensabschnitten, mit familiären Umständen, es ist nicht wichtig. Die neue Frage ist wichtig und das, was ich daraus mache. Also: schreiben oder leben?

Das Schreiben gehört zu meinem Leben, selbstverständlich, aber sobald ich in meine Texte eintauche, ziehen die Stunden weit davon entfernt vorbei, denn ich bewege mich mit den Figuren in den Geschichten, während in der realen Welt alles Mögliche passiert. Auf Vieles davon kann ich gern verzichten (vor allem darauf, das ständig zu hören oder zu lesen), aber nicht auf alles. Glücklicherweise passt oft beides in meinen Tag: Am Morgen das reale Leben mit Vogelgezwitscher und einem griechischen Mokka, am Vormittag das Schreiben. Am Nachmittag das Leben mit meiner Familie. Und Dank der Hörbücher und selbst verordnetem langen Laufen schaffe ich es meistens sogar noch bis zur konsumierten Literatur. Neben den Kontakten zu Freunden und ehrenamtlichen Verpflichtungen, die eigentlich auch zum Leben gehören.

Der Tag könnte gern länger sein – und das nicht nur im Sommer, sondern immer. Weil das Gefühl bleibt, es reiche bei aller Planung und Logistik nicht für alle und alles. Aber das geht garantiert nicht nur mir so und nicht nur Autorinnen. Das ist eben das chaotische, wunderbare, gut gefüllte Leben, das ich nicht missen möchte.

Schreiben

Schreiben

Buchstaben aneinanderzufügen und die korrekte Grammatik lernt jeder in der Schule. Sich Geschichten auszudenken gehörte zu meiner Kindheit wie zu der sehr vieler anderer. Bücher zu lesen war meine Lieblingsbeschäftigung. Weshalb also begann meine „Schriftstellerkarriere“ (in Anführungszeichen, weil es natürlich keine im landläufigen Sinne ist) relativ spät?

Das Leben war einfach wichtiger. Und spannender. Und erlebnisreich genug. Vielleicht ging es mir auch zu gut. Es lohnte nicht, das zu erzählen, darüber ein Buch zu schreiben. Wie fast alle um mich herum absolvierte ich die Schule, mit guten Ergebnissen in allen Fächern, und selbst, wenn Deutsch ein besonderes war für mich, mit einem sehr besonderen Lehrer, Brecht-Fan, der uns nicht nur nach Berlin chauffieren ließ zum Berliner Ensemble und Stücke mit uns einstudierte, der zudem das heute sogenannte „Schreiben mit allen Sinnen“ für bloße Aufsätze lehrte, blieb es ein Schulfach. Versuche, mich schriftlich auszudrücken, gab es natürlich, wie bei vielen anderen Pubertierenden auch, und das „Fest der Deutschen Sprache“ mit der Rubrik „Selbstverfasste Dichtung“ war ein Ansporn. Etliche Studienrichtungen, die ich mir hätte vorstellen können, von Literaturwissenschaft bis Philosophie, ließen sich nicht realisieren, und ich denke heute tatsächlich, dass die teils hanebüchenen Absagen dafür gesorgt haben, dass ich mit dem eigentlichen Leben konfrontiert werden konnte, das mir bis heute unendlich viele Themen zum Schreiben liefert.

Und dann war da mein Sohn, der genauso lesehungrig war wie ich selbst. Der mit Schnur und Pappe und Stiften Welten schuf und stundenlang baute und erzählte. Für den ich die ersten Geschichten schrieb. Mit ganz viel Freude und Spaß und nebenbei.

Vielleicht war es eine Form der Midlifecrisis, ich empfand es als Chance auf ein zweites Leben, als mein Sohn erwachsen wurde. Ich war jung, viel jünger als heutige Eltern, mein Sohn würde schon bald das Haus verlassen (bzw. die kleine Wohnung), ich konnte das tun, was mir gefiel.

Wir sprachen darüber, dass er sein Studium selbst würde finanzieren müssen, es schmerzte mich sehr, aber er stimmte sofort zu.

Ich hatte Eheschließung, Scheidung, etliche Umzüge, kurze Lieben, schmerzvolle Trennungen und den Tod erlebt. Ich hatte nicht nur unterschiedliche Ausbildungen absolviert und in entsprechenden Funktionen gearbeitet, sondern auch in zwei extrem verschiedenen Systemen gelebt. Bewusst gelebt. Als die Mauer fiel, war ich siebenundzwanzig Jahre alt, alleinerziehend, mein Sohn sollte demnächst eingeschult werden.

All das hat in meinem Fall dazu beigetragen, dass ich damit begann, meine Gedanken niederzuschreiben, nicht nur in ein Tagebuch. Dass ich mir Geschichten ausdachte, Vergangenem nachspürte, es bewahren wollte und nicht mehr nur für mich selbst notierte.

Das Lesen kommt vor dem Schreiben.

Das Lesen kommt vor dem Schreiben.
10. August 2022

Das Lesen kommt vor dem Schreiben. Wann haben Sie zuletzt ein Buch gelesen? Man muss viele Bücher gelesen haben, um gut schreiben zu können. Das sind die häufigsten Anregungen und/oder Ermahnungen, die ich in den unterschiedlichsten Weiterbildungen hörte.

Nun ist es so, dass ich schon immer sehr gern und sehr viel gelesen habe. Im Gegensatz zum eigenen Schreiben, das sich – anders als die Fähigkeit dazu – erst vor wenigen Jahren bei mir ausgebildet hat. Als Kind und Jugendliche habe ich alle Bücher verschlungen, die es um mich herum gab. Zu Hause, in der Schule, in der Bibliothek. Auf jedem Gabentisch lagen welche und auch die Schränke meiner Eltern waren nicht sicher vor mir. Ähnlich dem heutigen Abo bei Weltbild & Co. gab es früher Reihen, die meine Eltern kauften, „Weltliteratur“, die den Namen verdient, und keine Schmöker. Die gab es bei Freundinnen.

In meinem Bücherregal stehen noch immer die Favoriten von damals, aber ob ich sie heute – mit dem heutigen Wissen – noch so unbefangen lesen könnte, bezweifle ich.

Das Lesen hat sich – seit ich selbst Texte verfasse – erschreckend verändert. Zuerst war es so, dass ich dachte, weshalb werden diese Bücher verlegt und meine nicht. Die ersten Weiterbildungen, die sich damit beschäftigten, analytisch zu lesen, verstand ich kaum, dabei mochte ich analytisches Denken, aber das war noch einmal etwas anderes. Ich lernte es, während ich für Zeitungen Rezensionen verfasste, während ich mich auf Textbesprechungen vorbereitete. Ich las alles mindestens dreimal. Erst dann schien mein Blick geschärft für Widersprüche, Stilabweichungen oder logische Fehler.

Inzwischen fällt mir das leichter, aber es hat mein Lesen beeinflusst. Manchmal bedaure ich, mich nicht mehr so fallenlassen zu können in fremde Texte. Der Neid ist kleiner geworden, vielleicht, weil ich mich selbst besser einordnen und schriftstellerische Qualität anderer zu schätzen gelernt habe, aber auch, weil ich inzwischen zu viele Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb gesammelt habe. Weil ein bekannter Name oder etwas, das Lektoren für das halten, „was ihre LeserInnen wollen“, sich in deren Augen besser vermarkten lässt.

Ich habe LieblingsschriftstellerInnen, leider sind die meisten nicht mehr am Leben. Es werden also keine neuen Werke von ihnen dazukommen. Ich lese, was Freundinnen mir empfehlen oder worüber ich eine Rezension oder eine Werbung gesehen habe, ich lese die Texte von KollegInnen, die ich während der Weiterbildungen oder Aufenthalte treffe, ich stöbere in den Online-Katalogen der Bibliothek, weil das Hörbuch mir auch im Unterwegssein ermöglicht, Literarisches zu konsumieren und ich Körper und Geist gleichermaßen in Gang halte damit.

Die Ergebnisse sind sehr, sehr unterschiedlich. Meine Ergebnisse, meine Gefühle und meine Einschätzungen. Manchmal kann ich sie nicht einmal mit meiner liebsten Freundin teilen, das schmerzt. Es ändert nichts an meiner Wahrnehmung.

Das eigene Schreiben hat mir gezeigt, wie wichtig die Sprache ist, wie wichtig es ist, alle losen Fäden wieder einzusammeln und vor allem: was ein guter Anfang ist und was ein besonderes Ende. Ausgerechnet an letzterem scheint es neuerdings zu hapern.

Schon vor Jahren habe ich mich – endlich – dazu durchringen können, nicht mehr jedes Buch zu Ende zu lesen. Ich bin nicht mehr zwanzig und es gibt einfach viel zu viele Bücher.

Ich schaue im Übrigen auch einen Film nicht mehr bis zum Schluss, wenn er mir nicht gefällt – und es sind ähnliche Dinge, die mich stören.

Aber zum Ende – weil es das ist, was mich gerade beschäftigt. Ich habe in den letzten Wochen fünf Bücher gelesen und drei gehört (plus sechs Hörbücher, die ich noch vor dem ersten Kapitelschluss abwählte), auf einem der durchgelesenen Bücher stand sogar: „Bestes Buch dieses Jahres“. Abgesehen davon, dass Lesen glücklicherweise etwas sehr Individuelles ist und ich die Aussage daher sehr gewagt finde, hat mich dieser Satz dazu bewegt, das Ganze bis zum letzten Satz zu lesen und das war reine Zeitverschwendung. Die Thematik, die in einer Kurzrezension von weniger als einhundert Zeichen bereits vollständig wiedergegeben worden war, ist spannend, aber es gibt dermaßen viele logische Fehler und das Ende ist einfach nur enttäuschend.

Bei einem anderen, ähnlich gepriesenen Buch (von der Autorin hatte ich sogar zuvor etliche gelesen und war stets begeistert gewesen), hätte ich das dicke Ding zwischendurch ein paar Mal aus dem Fenster werfen können – allein, erstens tue ich so etwas nicht und zweitens hatte ich es aus der Bibliothek entliehen und wollte für diese Art Text nicht auch noch Geld opfern.

Einem anderen Buch war ich Monate lang auf der Spur gewesen, bevor ich es in den Händen halten konnte – und wartete Hunderte von Seiten darauf, dass das Außergewöhnliche des Titels sich auch inhaltlich zeigte – und wurde von dem sinnfreien Ende auch noch enttäuscht. Jedes Mal fragte ich mich, ob den AutorInnen nichts mehr eingefallen war? Jedes Mal erinnerte ich mich daran, vor mehr als zwanzig Jahren ein schmales Büchlein eines sehr bekannten Autors gelesen zu haben, der mich mit den von ihm ins Extreme getriebenen Perspektivwechseln eines Pärchens dazu ermuntert hatte, für meinen zweiten Roman so etwas auszuprobieren. Ich bin ihm nachträglich dankbar, empfehlen kann ich sein Werk dennoch nicht, denn die letzten Seiten drifteten unvorbereitet und für mich unerklärlich ins Surreale ab, sodass ich mich damals schon gefragt hatte, ob ihm nichts Besseres eingefallen war.

Die Enden, die mir nicht gefallen, sind offene oder geschlossene, diejenigen, die mir gefallen, sind offene oder geschlossene. Daran liegt es also nicht.

Mir bleibt nur zu hoffen, dass ich zufällig weniger gute Bücher gewählt habe und das kein Trend ist. Denn auf das Lesen (oder Buchhören) zu verzichten ist keine Option.