30. August 2022

Viele Jahre lang habe ich mich darüber gegrämt, jedes Mal entscheiden zu müssen, ob ich lieber lesen solle oder selbst schreiben. Ich kann – sofern ich tagsüber an meinen Texten gearbeitet habe – am Abend eine Kinder- oder Jugendgeschichte lesen, einen Krimi (lese ich aber nicht gern). Literarische Romane zu lesen, während ich selbst eine Geschichte entwickle, funktioniert bei mir nicht. Beziehungsweise stelle ich jeweils nach einigen Tagen fest, dass ich unbewusst den Stil des gelesenen Autors imitiere und das ist meistens gar nicht lustig, denn wenn auf Christa Wolf Stefan Zweig folgt oder Max Frisch, ist das definitiv nicht mehr mein Stil – so sehr ich das auch bedauere. Also habe ich mir angewöhnt, entweder zu lesen oder zu schreiben. Beschäftige ich mich mit einem längeren Text, gibt es nur diesen, muss der ruhen, lese ich. Mehrere Bücher hintereinanderweg weg, oft auch parallel.

Seit ein paar Monaten stellt sich die Frage: Lesen oder schreiben? plötzlich neu. Anders. Es geht nicht mehr darum, zu schreiben oder zu lesen, sondern darum, zu schreiben oder zu leben.

Es ist Sommer, ich gehöre selten zu den abendlichen Gästen der Restaurants oder Biergärten, ich genieße die milde Nachtluft, ansonsten ändert sich mein Tagesrhythmus nur wenig. Vielleicht hängt es mit dem Alter zusammen, mit Lebensabschnitten, mit familiären Umständen, es ist nicht wichtig. Die neue Frage ist wichtig und das, was ich daraus mache. Also: schreiben oder leben?

Das Schreiben gehört zu meinem Leben, selbstverständlich, aber sobald ich in meine Texte eintauche, ziehen die Stunden weit davon entfernt vorbei, denn ich bewege mich mit den Figuren in den Geschichten, während in der realen Welt alles Mögliche passiert. Auf Vieles davon kann ich gern verzichten (vor allem darauf, das ständig zu hören oder zu lesen), aber nicht auf alles. Glücklicherweise passt oft beides in meinen Tag: Am Morgen das reale Leben mit Vogelgezwitscher und einem griechischen Mokka, am Vormittag das Schreiben. Am Nachmittag das Leben mit meiner Familie. Und Dank der Hörbücher und selbst verordnetem langen Laufen schaffe ich es meistens sogar noch bis zur konsumierten Literatur. Neben den Kontakten zu Freunden und ehrenamtlichen Verpflichtungen, die eigentlich auch zum Leben gehören.

Der Tag könnte gern länger sein – und das nicht nur im Sommer, sondern immer. Weil das Gefühl bleibt, es reiche bei aller Planung und Logistik nicht für alle und alles. Aber das geht garantiert nicht nur mir so und nicht nur Autorinnen. Das ist eben das chaotische, wunderbare, gut gefüllte Leben, das ich nicht missen möchte.