19. Oktober 2022

Mein Bedürfnis, Geschichten zu formulieren, erwachte erst spät. Ich schrieb zwar als Jugendliche wie viele in meinem Alter und in allen Generationen, aber erst, als ich andere teilhaben lassen wollte an Erlebtem, das ich aufschreiben musste, um mich selbst damit auseinanderzusetzen, probte ich literarische Formen. Ich hatte einen phantastischen Deutschlehrer, der mich unterstützte, auf Unstimmigkeiten oder Kitschiges hinwies. Aber die Schule war irgendwann beendet und es folgte – nichts. Oder doch. Das Leben. Studium, Familie, Trennung, neues Studium. Dann brach die Welt, in die ich hineingeboren worden war, zusammen. Alles, was bis dahin wichtig gewesen war, wurde an den Pranger gestellt, abgeschafft, verbuddelt.

Ich musste dem etwas entgegensetzen. Ich konnte mich nur schreibend damit auseinandersetzen, und ich wollte keine Pamphlets. Ich verfasste kleine Geschichten für meinen Sohn, in denen Freundschaft und Solidarität, Akzeptanz und Liebe eine Rolle spielten, die wichtiger war als all das neue Glitzerzeug um mich herum.

Ich schrieb kurze Texte, in denen ich mich erinnerte: an meine Herkunftsfamilie, an Dorfstrukturen, an die neuen Kreuze neben den Fahrbahnen.

Schon damals wollte ich vor allem etwas bewahren. Aufheben im doppelten Sinn. Wörter, Empfindungen, Bilder, Gerüche. Mein Leben und das etlicher anderer aus diesem kleinen Siebzehn-Millionen-Einwohner-Staat. Ich wollte nicht „wir“ sagen, es sollten meine Geschichten bleiben, aber sie sollten möglichst viele Menschen dazu bewegen, über ihre eigenen Wege nachzudenken und sich zu erinnern.

Ich fand eine Autorengruppe in der Nachbarstadt, die meine ersten Versuche begleitete. Wenige übten konstruktive Kritik, viele wohlwollende, aber es war ein Anfang.

Es folgten schmerzhafte private Erlebnisse und viel Alltag, ich schrieb weiter. Bewarb mich um Aufenthalte in Künstlerhäusern, schickte stapelweise Manuskripte, die ich für gelungen hielt, an die großen Verlagshäuser. Ich sammelte Ablehnungen wie andere Briefmarken. Besuchte Kurse, lernte, schrieb.

Der Erfolg stellte sich ein. Mein Traum von einem ersten veröffentlichten Buch erfüllte sich.

Seit meinen ersten literarischen Versuchen sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Die Zeit meiner Kindheit, meines Erwachsenwerdens, taucht in vielen Büchern bekannter Autorinnen auf, so vielfältig, wie die Welt damals war. Ich schreibe immer noch darüber, auch, wenn ich Ausflüge in die Jahrzehnte davor oder in die nähere Vergangenheit unternehme. Es spielt immer eine Rolle, woher ich komme. Wahrscheinlich auch für jede Autorin, die jenseits des berüchtigten Zauns aufgewachsen ist, nur hat er oder sie nie um die Anerkennung der gesellschaftlichen Lebensumstände kämpfen müssen.