13. Oktober 2022

Als Kind habe ich am liebsten Märchen gelesen, wahrscheinlich, weil sie immer gut ausgehen. So gruselig es zwischendurch zugehen mochte, ich konnte mich darauf verlassen, dass alles ein gutes Ende finden würde.

Alles, was in meiner Jugend- und Erwachsenenzeit mit „Sozialistischer Realismus“ betitelt wurde, passte ebenfalls in diese Rubrik, denn es gab jeweils einen guten oder doch wenigstens hoffnungsvollen Ausblick.

Nach 1989 hatte ich erstmals das Gefühl, hinterherzuhinken. Ich lieh und kaufte Bücher aller großen westdeutschen Schriftsteller, ich verschlang amerikanische Romane ebenso wie zuvor die russischen. Es wäre leicht, das der Grenzöffnung zuzusprechen. Denn ganz stimmte es nicht. „Unterm Rad“ von Hermann Hesse oder andere „Werke der Weltliteratur“ standen entweder in den Bücherregalen meiner Eltern, wo ich auch einige las (Zola zum Beispiel, Balzac, isländische oder französische Autoren), oder ich hatte sie als Jugendliche als Paperback für ein paar Pfennige erworben – weil alle die Bücher der entsprechenden Autoren kaufen wollten. Gelesen allerdings habe ich sie nicht. Oder eben viel später.

Während man als Kind, so denke ich, alles liest, was einem vor die Augen kommt, braucht es für den erwachsenen Leser ein Initial. Es muss zur Stimmung passen, zum jeweiligen Lebensumstand, zum Alter.

Hermann Hesses „Unterm Rad“ war viermal mit mir umgezogen, bevor ich es aus dem Regal holte. Ich brauchte eine Menge Taschentücher, weil die Zeilen mich zeigten, meine Situation. Ich war voll berufstätig, alleinerziehend, Fernstudentin, ich fühlte mich wie in einem rollenden Rad, das nicht mehr stoppen kann, unterm Rad eben. Um mich herum war alles auseinandergebrochen, zerbrochen, und etwas Neues noch lange nicht real, außer in den wohlklingenden Versprechungen des Einheitskanzlers.

Als ich Benoîte Groult entdeckte (der Hype um „Salz auf unserer Haut“ war längst abgeebbt), ging es mir ähnlich: ich las ein Buch von ihr nach dem anderen, bis ich auf das schmale Bändchen stieß: „Ödipus’ Schwester“. Das wiederum verstand ich nicht. Sozialisiert in der DDR waren die Kämpfe der Schriftstellerin um Frauenrechte historisch interessant – aber aus einer fernen Welt. Die schneller in meine drang, als es mir und meinen Freundinnen lieb sein konnte.

Inzwischen lese oder höre ich wieder die russischen Autoren. Nicht, weil mir das Russische aus dem Schulunterricht bekannt ist – leider sind meine Sprachkenntnisse rudimentär – sondern, weil ich die Erzählweise mag. Das Ausufernde, das ich auch bei John Irving jahrelang mochte, bis ich gesättigt war. Oder mich neue Autorinnen begeisterten.

Es gab Jahre, in denen ich versuchte, den Kanon der westdeutschen Literatur zu durchforsten, schaffte jedoch weder alle Bände von „Mann ohne Eigenschaften“ noch „Ulysses“ vollständig zu lesen. Dafür fraß ich mich sozusagen als Leseraupe durch Max Frischs Werke, die mich immer wieder an Texte von Christa Wolf erinnern und die ich sehr mag (beide), und las zeitenübergreifend und vollkommen durcheinander Grass, Flaubert, Heinrich und Thomas Mann, Dickens, Roth, Oscar Wilde, Javier Marías, unterbrochen von Huxley und Orwell, Camus, Henry D. Thoreau, ich las das Peter-Prinzip und Paul Watzlawicks herrlich-traurige Geschichten. Das ist eine sehr unvollständige Auflistung!

Hemingway und Stefan Zweig habe ich erst spät wiederentdeckt. „Sternstunden der Menschheit“ standen als Reclambändchen in sehr vielen Wohnzimmern, seine Kurzgeschichten und Novellen und dicken Bücher habe ich erst vor wenigen Jahren gelesen und gehört, bis ich jeweils pausieren musste, weil – gefühlt – alle Geschichten böse enden. Und das widerspricht meinem seit der Kindheit gepflegtem Wunsch nach einem guten Ende.

Hemingway ist nun schon seit Jahren mein Begleiter. Und neuerdings Stephen King. Ich kann mich nicht immer darauf verlassen, dass Kinder in seinen mystischen und düsteren Geschichten ungeschoren davonkommen – aber es gibt diese bizarren Enden, dieses „Fertigschreiben“, das mich fasziniert und das ich in neueren Texten anderer Autorinnen sehr vermisse.

Ich lese gern Geschichten jüngerer oder gleichaltriger Autorinnen, sie spiegeln meine Lebenszeit, aber sie haben es schwer, weil sie selten an die literarischen Maßstäbe einer Christa Wolf, eines Franz Fühmann, eines Max Frisch oder Dostojewski heranreichen. Es gibt sie, die Ausnahmen, die mich begeistern: Juli Zeh, Ingo Schulze, Judith Hermann, Jenny Erpenbeck. „Heimsuchung“ ist für mich das beeindruckendste Werk, lyrisch, episch, ich würde die Autorin gern einmal fragen, wie viele Jahre sie damit zugebracht hat, diese Geschichte zu komponieren, für mich stimmt darin jeder Satz. Auch diese Auflistung ist natürlich unvollständig. Es gibt Autoren, von denen ich nur ein Buch lese (Peter Richter „89/90“, Bov Bjerg „Auerhaus“, Delia Owens „Der Gesang der Flusskrebse“), entweder, weil ich keine weiteren finde oder mir wegen meiner Begeisterung für dieses eine Enttäuschung beim nächsten Buch ersparen möchte.

Und nun hinke ich schon wieder dem „fever“ hinterher, denn erst jetzt habe ich Elena Ferrante entdeckt. Finde ich aber nicht schlimm, denn ich kann nun auf eine Vielzahl an Büchern zurückgreifen. Hintereinanderweg lesen werde ich diese jedoch nicht. Sie sind voller Gedanken, die von mir zuerst nachgedacht werden wollen, voller Erlebnisse, die ich mit meinen eigenen abgleichen, voller Sprachvirtuosität, die ich ausgiebig bewundern möchte. Und damit bin ich erst einmal beschäftigt.