Greta
„Es ist viel zu eng im Abteil. Aber was soll ihr Gegenüber sagen, ein hochgewachsener Mann, der sich ein ums andere Mal den Hals verrenkt, um hinauszuschauen. Greta hätte auf seinem Platz sitzen sollen, dann wäre sie tatsächlich rückwärts gereist.“
„Greta lässt das Blatt sinken. Wie kann es nur sein, dass sie sich an Erlebnisse mit den Onkeln und Tanten in Windau erinnert, aber nicht aus der Zeit in Posen? …
In Windau ging sie noch nicht einmal zur Schule. Mit Altersverwirrtheit hat das auch nichts zu tun, sie schüttelt sich, bloß nicht. Welchen Kuchen gab es gestern? Gugelhupf, genau. Staubtrocken ist der gewesen. Und am Samstag, als sie Frau Doktor und Irmgard von der Reise berichtete, haben sie Erdbeerschnitten gegessen. In der Cafeteria. Frau Doktor hat moniert, dass es Puddingcreme statt Sahne ist, und Irmgard sagte den Spruch mit dem geschenkten Gaul. Alles noch da. Greta schaut zum Zugfenster hinaus. Alles noch da, nur diese vier Jahre Posen nicht. Sie nimmt den nächsten Brief zur Hand und atmet tief ein.“
„Kristaps wartet nicht. …
Marita nimmt die Reisetasche als Letzte in Empfang. Der Stapel Metallschienen ist längst in einem PKW-Kofferraum verstaut, der riesige Karton mit dem Rasenmäher in einen Handwagen umgepackt. Kartons und Tüten hat der Fahrer aus dem Bauch des Busses gezogen und verteilt. Sie hat dagestanden und alle vorgelassen, das passiert ihr sonst nie. Kristaps ist nirgends zu sehen. Statt Regen jetzt Sonne, Marita reibt ein bisschen auf den Latten herum und setzt sich neben ein Mütterchen auf die Bank. Sie schließt die Augen und versucht ruhig zu atmen, beginnt zu zählen, einmal von hundert rückwärts. Spätestens bei achtzig, nun gut, siebzig, sechzig, ach, was soll’s, spätestens bei zwanzig wird Kristaps ihr seine immer etwas feuchten Hände von hinten auf die Augen legen und ihr ins Ohr flüstern: „Mīļa, jauka, mana“, und sie wird alles verstehen, obwohl sie gar kein Lettisch kann.“
„Wenig später, Anfang Oktober, wurde im deutschen Radio …
dazu aufgerufen, Lettland zu verlassen. Schiffe würden bereitgestellt, in Windau, Libau und in Riga, große Schiffe, mit deutschen Namen. Die „Steuben“, die „Potsdam“. Überall herrschte eine große Aufregung, so viele Papiere mussten gezeigt und unterschrieben werden und alles so schnell wie nur irgend möglich. Jeder wusste, es würde schrecklich werden, wenn die Russen erst kämen.“
„Warum?“
„Warum, warum. Ach, Sie wissen ja gar nichts.“
„Entschuldigen Sie, aber das ist doch alles vollkommen absurd. Im Hostel wollten sie mir erklären, dass sie abends abschließen müssen, wegen der Russen. „Sie verstehen?“, sagten die auch noch. Nee, ich verstehe hier nur Bahnhof. Weil nämlich alle um mich herum russisch sprechen.“
Erschienen: Januar 2024
Verlag: Lauinger Verlag
Fast schon ein ganzes Leben
„Später! Immer vertröstest
du mich auf später! Paul!
Verstehst du mich nicht? Ich
will jetzt leben und nicht
irgendwann. Nicht später,
bitte, Paul.“
Das neue Leben war der Traum,
Birgit sprühte vor Energie, ein
Feuer, das ihn mitriss, nur
manchmal fürchtete er, davon
aufgefressen zu werden, aber das
ging vorbei, er liebte Birgit, es
würde nicht aufhören, niemals.
Barfuß rannten sie unter rot
gefärbten Wolken über die
Kiesel. Und alles ist gut,
dachte Paul.
Paul liebt Birgit und Birgit liebt Paul. Eine ganz normale Beziehung. Wären da nicht Pauls mangelnder Ehrgeiz beim Erklimmen der Karriereleiter und Birgits Sehnsucht nach materiellem Wohlstand.
Eine brandenburgische Kleinstadt, ein Havelsee. Eine Liebe, die Mitte der 1970er Jahre beginnt, mit dem Mauerfall und neuen Aufstiegschancen für Paul einen Höhenflug erlebt und wenige Jahre später jäh zerbricht.
Geld, Gerüchte und eine Flasche Wein. Die Suche nach der Wahrheit, die es doch geben muss. Alte und neue Sehnsucht. Paul und Birgit. Birgit und Paul.
Erschienen: Oktober 2018
Verlag: Lauinger Verlag
Rot ist schön
„Silke schaute zu den Wolken; sie sahen nicht so aus, als würde es gleich zu schneien beginnen. Aber sie war ja noch eine Weile unterwegs und wer weiß, irgendetwas konnte immer geschehen. Schneeflocken konnten sich auf die Schienen setzen und Züge zum Halt zwingen, auch in dieser Zeit und bestimmt auch in Holland. Es konnte plötzlich kälter werden, Weichen konnten einfrieren, der Zug hätte Verspätung und zwänge sie zum Umkehren.
Nun gut, zwingen würde sie wohl nichts und niemand, es wäre leichter, das war alles.“
„Rot hatte immer auch Weiß und Schwarz, einen Schimmer Blau und viel Gelb und Grün.“
„Auch in den Vokabelheften, die mit der akkuraten Schrift des Vaters gefüllt waren, fand Silke Bleistiftzeichnungen. Sie ähnelten denen, die sie zuvor auf dem Dachboden gefunden hatte, aber sie waren nicht vollendet. Und noch etwas war anders. Silke sah es erst, als sie die Briefe zur Hand nahm und die Bilder verglich. Die Skizzen in den Heften wirkten wie Portraits. Und ein Gesicht, von dem der Vater nur die Augenpartie dargestellt hatte, erkannte Silke.
Es war die Frau aus dem Hexenhaus.“
Erschienen: „Rot ist schön“ erschien am 1. Oktober 2015 bei Der Kleine Buch Verlag in Karlsruhe. Nun ebenfalls als Hörbuch erschienen: „Rot ist schön“
Verlag: Der Kleine Buchverlag