September 2022
Es ist der Alptraum schlechthin. Ich bin eingeladen, aus meinen Romanen zu lesen, werde angekündigt (dieses Mal sogar von der Verlegerin persönlich, aber das ist nur eine Variante), habe mich hübsch angezogen und stehe bereit – nur ohne Texte. Ohne eins der Bücher, das ich notfalls von seinem sinnfreien Folienumschlag befreien könnte und aufschlagen. Ich suche jemanden, der die Mappe noch schnell aus meiner Wohnung holen kann, weiß genau, wo sie liegt. Es ist nicht nur eine Lesung, fällt mir auf, sondern ein Volksfest, immer mehr Leute strömen nach anfänglichen Buh-Rufen nun zu irgendwelchen Buden, Marktständen, ich werde sie verlieren, ich überlege hektisch, wie viele Stellen aus meinen Büchern ich inzwischen auswendig kenne und demnach auch einfach so, ohne ein Blatt in der Hand, wiedergeben könnte, mir fallen mindestens zwei ein, ich fange schon mit den ersten Sätzen an und zähle, mindestens zwanzig Minuten, eher fünfundzwanzig könnten es werden, betont und entspannt vorgetragen, sogar das kann ich mir vorstellen, aber die Angst steigt hoch: wenn ich nun an irgendeiner Stelle nicht mehr weiter weiß?
Früher habe ich von Prüfungssituationen geträumt, meistens vor der Kulisse eines riesigen Hörsaals, was für ein Unfug, in Hörsälen wurden keine mündlichen Prüfungen abgenommen.
Diese Träume steigen noch immer auf, sehr selten, dafür zunehmend welche dieser anderen Prüfungssituation: zu lesen. Dabei habe ich kein Problem damit, vor einem Publikum zu stehen, ein Referat oder eben eine Lesung abzuhalten, im Gegenteil, ich brauche das. Wenn ich es schaffe, während des Vortrags zu lauschen und wahrzunehmen, wie mucksmäuschenstill es ist, von den sieben oder zwanzig oder vierzig Zuhörern schnäuzt sich nicht einer, niemand rutscht auf dem Stuhl umher oder wickelt einen Bonbon aus – das ist der schönste Lohn, die größtmögliche Befriedigung für die tagelange Anstrengung der Vorbereitung. Das gibt so viele Endorphine frei, dass ich den restlichen Abend über zu schweben glaube. Mich so fühle, als könne mir alles gelingen.
Eine Lesung steht bevor und ich bin noch nicht ausreichend vorbereitet. Das ist schon alles, was dieser Alptraum mir sagen will. Hoffe ich, vorsichtshalber packe ich die Bücher in die Tasche. Sicher ist sicher.