10. August 2022
Das Lesen kommt vor dem Schreiben. Wann haben Sie zuletzt ein Buch gelesen? Man muss viele Bücher gelesen haben, um gut schreiben zu können. Das sind die häufigsten Anregungen und/oder Ermahnungen, die ich in den unterschiedlichsten Weiterbildungen hörte.
Nun ist es so, dass ich schon immer sehr gern und sehr viel gelesen habe. Im Gegensatz zum eigenen Schreiben, das sich – anders als die Fähigkeit dazu – erst vor wenigen Jahren bei mir ausgebildet hat. Als Kind und Jugendliche habe ich alle Bücher verschlungen, die es um mich herum gab. Zu Hause, in der Schule, in der Bibliothek. Auf jedem Gabentisch lagen welche und auch die Schränke meiner Eltern waren nicht sicher vor mir. Ähnlich dem heutigen Abo bei Weltbild & Co. gab es früher Reihen, die meine Eltern kauften, „Weltliteratur“, die den Namen verdient, und keine Schmöker. Die gab es bei Freundinnen.
In meinem Bücherregal stehen noch immer die Favoriten von damals, aber ob ich sie heute – mit dem heutigen Wissen – noch so unbefangen lesen könnte, bezweifle ich.
Das Lesen hat sich – seit ich selbst Texte verfasse – erschreckend verändert. Zuerst war es so, dass ich dachte, weshalb werden diese Bücher verlegt und meine nicht. Die ersten Weiterbildungen, die sich damit beschäftigten, analytisch zu lesen, verstand ich kaum, dabei mochte ich analytisches Denken, aber das war noch einmal etwas anderes. Ich lernte es, während ich für Zeitungen Rezensionen verfasste, während ich mich auf Textbesprechungen vorbereitete. Ich las alles mindestens dreimal. Erst dann schien mein Blick geschärft für Widersprüche, Stilabweichungen oder logische Fehler.
Inzwischen fällt mir das leichter, aber es hat mein Lesen beeinflusst. Manchmal bedaure ich, mich nicht mehr so fallenlassen zu können in fremde Texte. Der Neid ist kleiner geworden, vielleicht, weil ich mich selbst besser einordnen und schriftstellerische Qualität anderer zu schätzen gelernt habe, aber auch, weil ich inzwischen zu viele Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb gesammelt habe. Weil ein bekannter Name oder etwas, das Lektoren für das halten, „was ihre LeserInnen wollen“, sich in deren Augen besser vermarkten lässt.
Ich habe LieblingsschriftstellerInnen, leider sind die meisten nicht mehr am Leben. Es werden also keine neuen Werke von ihnen dazukommen. Ich lese, was Freundinnen mir empfehlen oder worüber ich eine Rezension oder eine Werbung gesehen habe, ich lese die Texte von KollegInnen, die ich während der Weiterbildungen oder Aufenthalte treffe, ich stöbere in den Online-Katalogen der Bibliothek, weil das Hörbuch mir auch im Unterwegssein ermöglicht, Literarisches zu konsumieren und ich Körper und Geist gleichermaßen in Gang halte damit.
Die Ergebnisse sind sehr, sehr unterschiedlich. Meine Ergebnisse, meine Gefühle und meine Einschätzungen. Manchmal kann ich sie nicht einmal mit meiner liebsten Freundin teilen, das schmerzt. Es ändert nichts an meiner Wahrnehmung.
Das eigene Schreiben hat mir gezeigt, wie wichtig die Sprache ist, wie wichtig es ist, alle losen Fäden wieder einzusammeln und vor allem: was ein guter Anfang ist und was ein besonderes Ende. Ausgerechnet an letzterem scheint es neuerdings zu hapern.
Schon vor Jahren habe ich mich – endlich – dazu durchringen können, nicht mehr jedes Buch zu Ende zu lesen. Ich bin nicht mehr zwanzig und es gibt einfach viel zu viele Bücher.
Ich schaue im Übrigen auch einen Film nicht mehr bis zum Schluss, wenn er mir nicht gefällt – und es sind ähnliche Dinge, die mich stören.
Aber zum Ende – weil es das ist, was mich gerade beschäftigt. Ich habe in den letzten Wochen fünf Bücher gelesen und drei gehört (plus sechs Hörbücher, die ich noch vor dem ersten Kapitelschluss abwählte), auf einem der durchgelesenen Bücher stand sogar: „Bestes Buch dieses Jahres“. Abgesehen davon, dass Lesen glücklicherweise etwas sehr Individuelles ist und ich die Aussage daher sehr gewagt finde, hat mich dieser Satz dazu bewegt, das Ganze bis zum letzten Satz zu lesen und das war reine Zeitverschwendung. Die Thematik, die in einer Kurzrezension von weniger als einhundert Zeichen bereits vollständig wiedergegeben worden war, ist spannend, aber es gibt dermaßen viele logische Fehler und das Ende ist einfach nur enttäuschend.
Bei einem anderen, ähnlich gepriesenen Buch (von der Autorin hatte ich sogar zuvor etliche gelesen und war stets begeistert gewesen), hätte ich das dicke Ding zwischendurch ein paar Mal aus dem Fenster werfen können – allein, erstens tue ich so etwas nicht und zweitens hatte ich es aus der Bibliothek entliehen und wollte für diese Art Text nicht auch noch Geld opfern.
Einem anderen Buch war ich Monate lang auf der Spur gewesen, bevor ich es in den Händen halten konnte – und wartete Hunderte von Seiten darauf, dass das Außergewöhnliche des Titels sich auch inhaltlich zeigte – und wurde von dem sinnfreien Ende auch noch enttäuscht. Jedes Mal fragte ich mich, ob den AutorInnen nichts mehr eingefallen war? Jedes Mal erinnerte ich mich daran, vor mehr als zwanzig Jahren ein schmales Büchlein eines sehr bekannten Autors gelesen zu haben, der mich mit den von ihm ins Extreme getriebenen Perspektivwechseln eines Pärchens dazu ermuntert hatte, für meinen zweiten Roman so etwas auszuprobieren. Ich bin ihm nachträglich dankbar, empfehlen kann ich sein Werk dennoch nicht, denn die letzten Seiten drifteten unvorbereitet und für mich unerklärlich ins Surreale ab, sodass ich mich damals schon gefragt hatte, ob ihm nichts Besseres eingefallen war.
Die Enden, die mir nicht gefallen, sind offene oder geschlossene, diejenigen, die mir gefallen, sind offene oder geschlossene. Daran liegt es also nicht.
Mir bleibt nur zu hoffen, dass ich zufällig weniger gute Bücher gewählt habe und das kein Trend ist. Denn auf das Lesen (oder Buchhören) zu verzichten ist keine Option.